Donnerstag, 30. September 2010

Wilco, 26/09/2010, Laeiszhalle Hamburg



Spaß am schönen Krach. 

Wilco. Sitzplatzkonzert. In der Laeiszhalle zu Hamburg. Klar doch. Wilco sind ja auch keine Rockband, will man sagen. Aber da ist man gleich zweifach auf dem Holzweg. Denn erstens sind die Jungs aus Chicago live um Einiges lauter, als die Platten so vermuten lassen, weshalb das hier durchaus ein Rock-Konzert ist. Und trotzdem passt diese Art Rock ganz vorzüglich an den mit Stuck, Gold und Kirchenorgel ausgestatteten Veranstaltungsort. Denn Rockstars sind Wilco nun mal wirklich nicht.

Selbst wenn man die Promo-Shots auf ein paar Kilometer Abstand betrachtet, sehen Wilco immer noch wie die schlimmsten Nerds aus. Jeff Tweedys Universum dreht sich offensichtlich um wertvolles Equipment und anspruchsvolle Musik, nicht um Bügeleisen oder Trendfrisuren. Darum ist auch jeder Auftritt dieser Band so glamourös wie ein Kegelabend. Aber im vorliegenden Fall soll das vermutlich sogar ganz genau so sein. Denn bei Wilco geht es um Musik, sonst nichts. Weshalb der leichte Hauch von Trockeneisnebel fasst etwas unpassend wirkt, als die Band pünktlich um 21.00 Uhr auf ihren Arbeitsplatz schlurft. Und spätestens nach den ersten Noten will ich nirgendwo anders sein, als jetzt hier auf diesem Holzsitz mit dem tiefroten Samtbezug. 

Es gibt sicher findige Manager auf dieser Welt, die ihren Schützlingen einen so sanften und langsamen Opener wie Sunken Treasure strikt verbieten würden. Wilco erlauben sich obendrein, den Song mit komischem Geklöter zu unterlegen, der einen zunächst an massive Soundprobleme glauben lässt. Aber hier sitzt kein Kabel locker und es sind keine Lautsprecher durchgebrannt. Diese Band besitzt bloß neben der Gabe makellose Musik hervorzubringen, eine unbändige Lust am Krach. Via Chicago, Ashes of American Flags oder One Wing sind allesamt Musikstücke, die auf den Tonträgern einigermaßen ruhig und melodieselig daherkommen und höchstens durch ein paar leichte Störeffekte aufhorchen lassen. Leibhaftig haben Wilco einen Heidenspaß dabei, diese Akzente etwas mehr zu betonen. Die ehrwürdige Innenfassade der Laeiszhalle hat jedenfalls selten so gezittert. Der Typ neben mir hält sich die Ohren zu, als sich I am trying to break your heart in ein brutales Crescendo schraubt, Nels Cline offensichtlich versucht, die Saiten seiner Fender Jaguar zu zerhacken und Glenn Kotche in einer Art auf sein Drum-Set eindrischt, als würde er morgen sowieso auf Blockflöte umsteigen wollen. Aber selbst, wenn das die Ohren der Flasche neben mir nicht ertragen: dieser Lärm ist so berauschend schön, dass es einzelne Menschen im Publikum immer wieder von den Sitzen reißt. Man muss eben wissen, worauf man sich einlässt – alle Wilco-Tonträger zu besitzen, bedeutet noch lange nicht, dass man diese Truppe wirklich kennt. Da tut sich schließlich auch die Musikindustrie etwas schwer. "Alternative-Country" ist das hier jedenfalls nicht. 

Hate it here wird zum Triumphzug (mitgesungener Refrain!). Bei Impossible Germany fiebert man dem Gitarren-Solo entgegen und wird mit atemberaubender Kunst entlohnt. Höchstens ein paar ambitionierte Hobby-Gitarristen wünschen sich in jenen 3 oder 4 Minuten vermutlich, Nels Cline die Finger mit einer rostigen Gartenschere abzutrennen. Jeff Tweedy bleibt wie gewohnt recht lange still, sagt erst nach einer knappen Stunde Hallo und erkundigt sich brav nach dem Befinden des Publikums. Nach und nach wacht er allerdings immer mehr auf und fragt sogar, ob jemand mal aufs Klo möchte. Ein zaghaftes »Ja« aus dem Auditorium. »No problem, just go, we'll wait for you.« Natürlich entscheidet sich die entsprechende Person anders, aber für einen Moment fühlt man sich verdammt wohl in dem Wissen, dass es möglicherweise nur eine professionelle Combo auf diesem Planeten gibt, die sich wirklich auf solche Sachen einlassen würde. Der Gedanke dass das so ist, wird wohl – neben der offensichtlichen Spielfreude dieser Band – auch dafür verantwortlich sein, dass Wilco von ihrem Publikum nicht nur gemocht und gefeiert, sondern tatsächlich geliebt werden. Liebe, die aber auch erwidert wird, selbst wenn der Titelsong des aktuellen Albums heute Abend nicht ins Programm findet. »Is someone twisting a knife in your back? Are you being attacked? This is a fact that you need to know: Wilco will love you, baby.«

Danke. Ich euch auch.