Freitag, 31. Dezember 2010

Welcome 2011.





Paul Weller fast vor der Ideenlosigkeit, Richard Ashcroft mitten in der Sinnkrise. Vielleicht doch ein wenig zu sehr auf Justin Curries neues Album gefreut und dann nur halbwegs berückt gewesen. Ryan Adams veröffentlicht ein schwer verdauliches Metal-Album, taut aber wenigstens zum Jahresschluss ein paar übrig gebliebene Songs aus vergangenen Zeiten auf. Lloyd Cole kann auch bessere Platten machen als "Broken Record", gibt aber wenigstens schöne Konzerte. Duffy klingt jetzt tatsächlich wie eine kaputte Lockpfeife für die Entenjagd, die Flaming Lips machen mit ihrer Konzertreise einen großen Bogen um Deutschland. Den Oasis-Newsletter hab ich abbestellt, seitdem mir Liam Gallagher ständig das Vorkaufsrecht auf das neue Beady Eye Album andrehen will. 


Und Arcade Fire? Mich fragt ja keiner, aber ich würde antworten, dass "Funeral" und "Neon Bible" um Lichtjahre besser waren, als "The Suburbs". Keine Ahnung, wie das die Besucher des Reading-Festivals in diesem Jahr sahen, aber es klingt jedenfalls so, als wären wir einer Meinung. Zum Abschluss eines musikalisch eher mediokren Jahres stammt der Rausschmeißer für 2010 darum auch vom Debüt der Kanadier. Und ja, das Mitgrölen ist heute ausnahmsweise mal gestattet. Spiel es laut. 


Allen Freunden ein gesundes, wohlklingendes 2011.
VDL

Montag, 27. Dezember 2010

Kracher 2010



1.
Bryan Ferry · Olympia

2.
Ryan Adams & The Cardinals · III/IV

3.
Tindersticks · Falling Down A Mountain

4.
Justin Currie · The Great War

5.
Arcade Fire · The Suburbs

6.
Paul Weller · Wake Up The Nation

7.
Gisbert zu Knyphausen · Hurry! Hurra! So nicht.

8.
Robert Plant · Band Of Joy

9.
Sharon Jones & The Dap Kings · I Learned The Hard Way

10.
Cory Chisel & The Wandering Sons · Death Won't Send A Letter




Dienstag, 16. November 2010

Imaginäres Interview mit Ryan Adams





»Herr Adams, so geht das nicht. Immer nur tolle Songs. Tolle Platten. Erst mit Whiskeytown, dann solo. Ihnen gelingt wirklich alles. Sogar ein Cover von Always on my mind, womit alle Anderen mordsmäßig vor die Wand fahren würden. Probieren wir doch mal etwas aus. Komponieren Sie bitte mal schnell ein Scheiß-Stück.«
»Okay!« (Greift zur Gitarre, spielt ein paar Akkorde.)
»Nein, nein, nein!«
»Oh. Ja. Stimmt. Das war gut, oder?«
»Allerdings. Das war klasse.«
»Hoppla. Entschuldigung. Schon wieder ein Hit. Mist.«
»Strengen Sie sich doch mal an! Spielen Sie doch mal falsch!«
»Au ja!« (Spielt weiter.)
»Es ist hoffnungslos mit Ihnen.«
»Aber ich hab doch ganz schräg gespielt!«
»Ja, Herrgottsack! ABER DAS HÖRT SICH IMMER NOCH FANTASTISCH AN! SIE ARSCH!«
»Tut mir leid... Kann ich Ihnen wenigstens ein Bier anbieten? Ein ganz doll Abgestandenes? Von vorgestern!«

Samstag, 23. Oktober 2010

Reisen bildet.




Autofahrt nach Oostende. Meine Erinnerungen an Belgien sind so kontrastreich, wie ein Gefrierbeutel. Einmal durchgefahren, auf dem Weg nach Frankreich, vor, lieber Himmel, über 20 Jahren. Das Wetter ist für Oktober ziemlich schön, die Sonne scheint und ich kann während der Fahrt sogar die Seitenscheibe öffnen, ohne ein abgefrorenes Ohr zu riskieren. Die Überquerung der Grenze von den Niederlanden nach Belgien war noch weniger spektakulär, als die von Deutschland ins Tulpenpflanzerland. Einfach ein gelbliches, leicht verbogenes Schild, ein anderer Fahrbahnbelag und das war's dann auch schon. Ich bin etwas enttäuscht, aber dann fällt mir ein, dass in Belgien auch französisch gesprochen wird und ich versuche angesichts eines Anfalls von Urlaubslaune, im Autoradio einen französischen Sender einzufangen. Nach 5 Minuten phonstarker, holländischer Radiowerbung gelingt mir das sogar. Auf La Premiere unterhalten sich zwei Damen über die Küche der Bretagne (so weit reicht mein klägliches Schulfranzösisch sogar). Die könnten meinetwegen auch über Bowling oder Springreiten diskutieren; wenn man zwei wohlklingende Frauenstimmen französisch sprechen hört, tut sich eine ganze Gedankenwelt auf, die an dieser Stelle aber nicht Thema sein soll. Schließlich doch noch Musik. In Frankreich wird ja überwiegend französische Musik gespielt, während man hierzulande der Deutschquote zwar die rote Karte gezeigt hat, aber dafür auch keine französische Silbe zu hören bekommt. Frankreich liegt mir nicht so, wie es anderen Menschen liegt, aber als ebenso neugieriger, wie musikliebender Mensch will ich meinen Kenntnisstand auffrischen. Und werde gleich mit einem Leckerbissen belohnt: Benjamin Biolay mit "Los Angeles", von seinem Debut "Rose Kennedy". Tolle Mischung aus Gitarrenpop mit Chanson-Anleihen und feinen Bläsern. Ich verstehe natürlich kein Wort vom Text, aber das ist auch ganz und gar egal, denn die Sonne, dieser Song und eine mir unbekannte Landschaft sind so unvermutet elektrisierend, dass ich auch noch die zweite Seitenscheibe herunter (und die Heizung auf volle Befeuerung) drehe. Reisen scheint mir erneut die einzige Beschäftigung auf diesem Planeten zu sein, für die man nicht genug Geld ausgeben kann.

Nach einer Woche wieder zuhause habe ich mit Menschen aus 10 Ländern und von drei Kontinenten gesprochen, mich in die "Königin der Seebäder" Oostende verliebt und ein Album erworben, welches sich seit Tagen im Player dreht. Ich werde wieder nach Belgien fahren. Im Frühling oder Sommer, wenn das Heizgebläse nicht mehr notwendig ist, um für Hochstimmung zu sorgen. Und dabei werde ich Benjamin Biolay hören. Ich könnte mir bis dahin die Texte dieses Albums übersetzen lassen. Aber warum sollte ich?  

Sonntag, 10. Oktober 2010

Solomon Burke, 1940 - 2010




Im Olymp des Soul war er ja ohnehin schon. Jetzt hoffe ich gerade, dass er auch in dem Himmel gelandet ist, an den er so fest geglaubt hat. 

Scheiße. Rest in Peace.

Freitag, 8. Oktober 2010

Wiedersehn.



Wo wir gerade bei "Under Pressure" sind: wer wollte eigentlich nicht irgendwann für einen Tag mal David Bowie sein? Wobei diese Frage zweierlei Antworten zulässt: allein in meinem Bekanntenkreis gibt es schon ein paar Menschen, die es gern etwas länger gewesen wären. Ich für meinen Teil bliebe zwar gern ich selbst, kann aber ohne rot zu werden nicht ausschließen höchst erfreut zu sein, würde mir jemand über Nacht die Gabe des perfekten Stils verleihen. Die schließlich, wenn man es mal ganz genau nimmt, im Musikgeschäft seit Ewigkeiten nur Bowie besitzt. Sogar im gesichtslosesten Jahrzehnt, welches die moderne Welt je erlebt hat, den Neunzigern, war Bowie stilbildend der Zeit um Meilen voraus. Auf Beifalls-bekundungen hat er dabei stets auf die gleiche Art reagiert, wie mal im Rolling Stone zu lesen war: »Deine letzte Platte hat mir gut gefallen. Sowas solltest du öfter machen!« »Fein! Das mache ich nie wieder.«

Ich hoffe sehr, dass dieser Mann nur seine Kräfte sammelt. Ich vermisse den Moment der Überraschung, der sich bislang noch bei jedem Bowie-Album eingestellt hat. Mir fehlt seine Art des Auftritts, dieser ganz spezielle Habitus, die sich sogar dann erschließt, wenn er nur in einem Werbespot für Mineralwasser zu sehen ist. Ohne David Bowie ist die Welt der Musik nicht schlechter. Bloß ärmer.   

Mittwoch, 6. Oktober 2010

Under Pressure



Alle Jahre wieder gibt es auf unserem Planeten Songs, passend zu irgendeinem guten Zweck. Aber selten hat jemand so einfallsreich und wirklich irre lustig mit Musik auf einen Missstand hingewiesen, wie dieser Mann. Ein Jahrhundert-Song. Und das "Musik-Video" des Jahres. Mindestens.

»As I said this is a performance. I don't want there to be any doubts about my situation. I am a performer. I have a roof over my head and I have yet to start my own family. But this video isn't about me. This is for the men, women and children on our streets who don't have bright green puppets on their hands. The people who aren't always as easy to see. This is for you.«

Sonntag, 3. Oktober 2010

Eric Clapton · Clapton

















Langeweile is God.

Der Art Director will das Blatt fertig machen. »Schreib doch über die neue Clapton. Den mochtest du doch früher so gern.« »Ja, aber das ist auch schon ziemlich lange...« »Papperlapapp, nimm mal die Scheibe von dem. Den Clapton kennen die Leute, die mögen den. Sonntag ist Deadline.« Note to myself: Vielleicht macht ein erhöhter Schwierigkeitsgrad die Sache spannender. Verboten sind der Begriff "Slowhand" und die olle Kamelle von "Clapton is God". Ist sowieso eine Ewigkeit her. Also. 

Lieber Himmel, das Cover sieht aus wie eine Fielmann-Anzeige. Das geht ja gut los. Erstes Stück: "Travelin' Alone". Blues, logisch. Clapton versucht den einigermaßen dreckig zu gestalten, aber irgendwie bleibt es trotzdem Altherren-Blues. Eine Minute. Eins dreißig. Nein. Song zwei: Auf den Altherren-Blues folgt Opa-Blues. Heißt auch "Rocking Chair". Habe ich wirklich erwartet, dass Clapton ein richtig atemberaubendes Alterswerk fabriziert? Nein, habe ich nicht. Ich werde schläfrig, schnell weiter: "River Runs Deep". Moment, das ist ganz hübsch. Streicher, eine quirlige Wurlitzer, Harmoniegesang mit J.J. Cale, von dem der Song auch stammt. Dass Clapton weiß, wie man mit einer Gitarre umgeht, muss er ja nicht mehr unter Beweis stellen. Tut er hier aber sehr unaufdringlich. Gefällt mir. Macht bloß noch schläfriger, obwohl längst keine Schlafenszeit ist. Ich lege jetzt die neue Arcade Fire auf. 

Komisch geträumt. Vom Clapton-Konzert, Hamburg, Sporthalle. Wann war das? 1989? 1990? Clapton hat da noch geraucht. Fand ich damals toll, die Kippe kurz angeraucht und dann zwischen die Saiten am Sattel der Stratocaster geklemmt. Macht heute auch kein Schwein mehr. Auf der Bühne direkt vor mir die Background-Mädels Katie Kissoon und Tessa Niles. Letztere in einem schlichten Minikleid aus Leder, mit einem durchgängigen Reißverschluss vorn. Geöffnet bis zur Herzschlaggrenze. Ich bekam kaum ein Solo von Clapton mit und dachte noch tage- oder (eigentlich eher) nächtelang daran. Ich schalte den Player wieder ein. "Judgement Day" läuft durch, "How Deep Is The Ocean", "The Milkman", "Can't Hold Out Much Longer". Langeweile macht sich in mir breit. »Blues ist das Eisstockschießen der Musik« habe ich mal irgendwo geschrieben. Fällt mir jetzt wieder ein. Erst "Everything Will Be Alright" lässt mich wieder aufhorchen. Schöner Takt, feine Bläser, mit Zurückhaltung gespielt. Das Piano-Solo macht's etwas zu pomadig, aber ein guter Song. "Diamonds Made From Rain", mit Sheryl Crow. Die obligatorische Tränenzieher-Ballade, arg kalkuliert, furchtbar klebriger Text. Aber die Stimme von Clapton ist immer noch klasse. Weiter: Blues, Blues, Blues-Rock (die einzige Eigenkomposition auf diesem Album), noch eine Cover-Variante von "Autumn Leaves", Schluss, aus, vorbei. Husch, zurück in die Hülle.    

3 zu 11. Miese Bilanz. Wäre nur als Heimpleite der Bayern gegen den VfB klasse. Die drei Guten sind dafür nicht nur gut, sondern fast toll. Reicht das für drei Sterne? Nein, reicht nicht. Aber wenn es nach dem Art Director geht, kennen die Leute den Clapton ja und mögen den. Haben also vielleicht auch nicht auf ein zweites "Behind The Sun" gehofft, so wie ich. Soll mir recht sein. Und wer bin ich denn schon, um das alles beurteilen zu dürfen? Eben. (Kunden, die das gekauft haben, kauften auch: Joe Cocker, Phil Collins, Carlos Santana.)


Donnerstag, 30. September 2010

Wilco, 26/09/2010, Laeiszhalle Hamburg



Spaß am schönen Krach. 

Wilco. Sitzplatzkonzert. In der Laeiszhalle zu Hamburg. Klar doch. Wilco sind ja auch keine Rockband, will man sagen. Aber da ist man gleich zweifach auf dem Holzweg. Denn erstens sind die Jungs aus Chicago live um Einiges lauter, als die Platten so vermuten lassen, weshalb das hier durchaus ein Rock-Konzert ist. Und trotzdem passt diese Art Rock ganz vorzüglich an den mit Stuck, Gold und Kirchenorgel ausgestatteten Veranstaltungsort. Denn Rockstars sind Wilco nun mal wirklich nicht.

Selbst wenn man die Promo-Shots auf ein paar Kilometer Abstand betrachtet, sehen Wilco immer noch wie die schlimmsten Nerds aus. Jeff Tweedys Universum dreht sich offensichtlich um wertvolles Equipment und anspruchsvolle Musik, nicht um Bügeleisen oder Trendfrisuren. Darum ist auch jeder Auftritt dieser Band so glamourös wie ein Kegelabend. Aber im vorliegenden Fall soll das vermutlich sogar ganz genau so sein. Denn bei Wilco geht es um Musik, sonst nichts. Weshalb der leichte Hauch von Trockeneisnebel fasst etwas unpassend wirkt, als die Band pünktlich um 21.00 Uhr auf ihren Arbeitsplatz schlurft. Und spätestens nach den ersten Noten will ich nirgendwo anders sein, als jetzt hier auf diesem Holzsitz mit dem tiefroten Samtbezug. 

Es gibt sicher findige Manager auf dieser Welt, die ihren Schützlingen einen so sanften und langsamen Opener wie Sunken Treasure strikt verbieten würden. Wilco erlauben sich obendrein, den Song mit komischem Geklöter zu unterlegen, der einen zunächst an massive Soundprobleme glauben lässt. Aber hier sitzt kein Kabel locker und es sind keine Lautsprecher durchgebrannt. Diese Band besitzt bloß neben der Gabe makellose Musik hervorzubringen, eine unbändige Lust am Krach. Via Chicago, Ashes of American Flags oder One Wing sind allesamt Musikstücke, die auf den Tonträgern einigermaßen ruhig und melodieselig daherkommen und höchstens durch ein paar leichte Störeffekte aufhorchen lassen. Leibhaftig haben Wilco einen Heidenspaß dabei, diese Akzente etwas mehr zu betonen. Die ehrwürdige Innenfassade der Laeiszhalle hat jedenfalls selten so gezittert. Der Typ neben mir hält sich die Ohren zu, als sich I am trying to break your heart in ein brutales Crescendo schraubt, Nels Cline offensichtlich versucht, die Saiten seiner Fender Jaguar zu zerhacken und Glenn Kotche in einer Art auf sein Drum-Set eindrischt, als würde er morgen sowieso auf Blockflöte umsteigen wollen. Aber selbst, wenn das die Ohren der Flasche neben mir nicht ertragen: dieser Lärm ist so berauschend schön, dass es einzelne Menschen im Publikum immer wieder von den Sitzen reißt. Man muss eben wissen, worauf man sich einlässt – alle Wilco-Tonträger zu besitzen, bedeutet noch lange nicht, dass man diese Truppe wirklich kennt. Da tut sich schließlich auch die Musikindustrie etwas schwer. "Alternative-Country" ist das hier jedenfalls nicht. 

Hate it here wird zum Triumphzug (mitgesungener Refrain!). Bei Impossible Germany fiebert man dem Gitarren-Solo entgegen und wird mit atemberaubender Kunst entlohnt. Höchstens ein paar ambitionierte Hobby-Gitarristen wünschen sich in jenen 3 oder 4 Minuten vermutlich, Nels Cline die Finger mit einer rostigen Gartenschere abzutrennen. Jeff Tweedy bleibt wie gewohnt recht lange still, sagt erst nach einer knappen Stunde Hallo und erkundigt sich brav nach dem Befinden des Publikums. Nach und nach wacht er allerdings immer mehr auf und fragt sogar, ob jemand mal aufs Klo möchte. Ein zaghaftes »Ja« aus dem Auditorium. »No problem, just go, we'll wait for you.« Natürlich entscheidet sich die entsprechende Person anders, aber für einen Moment fühlt man sich verdammt wohl in dem Wissen, dass es möglicherweise nur eine professionelle Combo auf diesem Planeten gibt, die sich wirklich auf solche Sachen einlassen würde. Der Gedanke dass das so ist, wird wohl – neben der offensichtlichen Spielfreude dieser Band – auch dafür verantwortlich sein, dass Wilco von ihrem Publikum nicht nur gemocht und gefeiert, sondern tatsächlich geliebt werden. Liebe, die aber auch erwidert wird, selbst wenn der Titelsong des aktuellen Albums heute Abend nicht ins Programm findet. »Is someone twisting a knife in your back? Are you being attacked? This is a fact that you need to know: Wilco will love you, baby.«

Danke. Ich euch auch. 

Donnerstag, 23. September 2010

Bryan Ferry · You Can Dance




»Wie immer?« »Aber gern!«

Irgendein Magazin, ich weiß nicht mehr welches, hat mal in gedruckter Form die Frage aufgeworfen, ob Bryan Ferry nun eigentlich der größte Idiot oder aber doch das größte Genie der Popmusik sei. Die Antwort liegt beim Leser selbst und vermutlich irgendwo dazwischen. Sicher ist dagegen jedenfalls, dass man bei Bryan Ferry – trotz schräger Ausflüge – unterm Strich eigentlich immer das bekommt, was man erwartet. Sowohl musikalisch, als auch lecker visuell. Und so viel Beständigkeit über die Jahrzehnte hinweg macht Freude, gibt Sicherheit, erhebt nostalgisch wie zeitgemäß den Moment. 

Sie meinen, ich wäre so einfach gestrickt, dass ich angesichts einiger luftig bekleideter Damen, die zu elektronischem Neo-Bossa-Rock im Goldfilter auf Zeitlupe und High-Heels Haut zeigen, gleich komplett aus dem Häuschen wäre? Aber klar doch! 22. Oktober: »Olympia«. Das neue Album von Bryan Ferry. Ich freu mich drauf.  

Dienstag, 21. September 2010

Lloyd Cole · Broken Record

Erstklassiges vom ewigen Zweiten.

Fast 25 Jahre ist es her, dass Lloyd Cole – damals noch mit seiner Begleitband „The Commotions“ – in Hannover auftrat. Mit „Easy Pieces“ war damals das zweite Album des Schotten erschienen und trotz fabelhafter Live-Adaptionen von „Forest Fire“ oder „Brand New Friend“ gingen während des Auftritts einige Menschen in der Mittagssonne lieber Bier holen oder fortbringen. Man muss natürlich erwähnen, dass Lloyd Cole damals u.A. neben musikalischen Zweitagsfliegen wie Katrina & The Waves als Stimmungsmacher für BAP fungieren musste. Ohne veritablen Chart-Hit im Gepäck stand man bei einem Ereignis dieser Art 1986 mit ziemlich kurzen Hosen da. Aus heutiger Sicht könnte man es sich leicht machen und sagen, der weitere Karriereverlauf Lloyd Coles hätte mit jenem Sommertag im Sportpark eine Menge gemein. Alles andere als ein Promoter in eigener Sache, wurde Lloyd Cole nach der Trennung von den Commotions und der Übersiedelung auf die andere Seite des Atlantiks eher zum Überlebenskünstler, als zum Star. Der ewige Zweite des Wettbewerbs ging seinen Weg völlig unbeirrt von den Strömungen der Zeit, veröffentlichte in regelmäßigen Abständen tolle Platten, war nie wirklich präsent, aber immer da. So wie einer dieser Läden, die man an Strandpromenaden findet und in denen es auch 30 Jahre nach der eigenen Kindheit unverändert nach Sonnencreme, Schwimmflügeln und Süßigkeiten duftet. Das große Publikum hat Lloyd Cole niemals erreicht. Dafür aber eine kleine, eingeschworene Fangemeinde um sich geschart, die ihm seit Anbeginn der Laufbahn die Treue hält.

Von eben dieser Community ließ sich Lloyd Cole in Ermangelung eines Major-Deals das neue Werk per Website-Aufruf vorfinanzieren. Plus Eigenleistung und Finanzspritzen durch mehrere kleinere Labels in den jeweiligen Ländern, konnte „Broken Record“ schließlich erscheinen. Nicht auszudenken, hätte diese Strategie des blinden Vertrauens in den Künstler versagt – schließlich ist auch das zehnte Soloalbum des ehemaligen Philosophie-Studenten erneut wunderbar geraten.

Wie ein pechschwarzer Faden durchzieht ein unverwechselbares Merkmal das Gesamtwerk von Lloyd Cole und auch auf „Broken Record“ werden bittere Wahrheiten in manchmal durchaus fröhlichen Melodien verpackt. Neu in seiner an musikalischen Facetten durchaus reichen Charakteristik sind lediglich die Country-Anleihen, die schon den Titelsong mit Pedal-Steel und Banjo bereichern. Ein Stück wie „Writers Retreat“, zu dem sogar ein Musikvideo erschien, wäre früher viril und ungestüm von Gitarren geleitet worden – in dieser Dekade lässt Cole eine Mandoline diesen Job erledigen. Überhaupt wird bei den 11 neuen und relativ kurzen Songs größtenteils auf drängende Hooklines oder schnelle Kehrtwenden verzichtet, was dem gesamten Album eine überaus entspannte Atmosphäre verleiht. „If I were A Song“ schunkelt mit Nashville-Insignien daher, „That’s Alright“ könnte man fast als Rock bezeichnen, hätte Lloyd Cole nicht diese eine Musikrichtung stets mit einigen Metern Abstand betrachtet und auf seine ureigene Weise interpretiert.

Wie zeitlos die Kunst dieses Mannes ist, offenbaren vor allem Songs wie „Oh Genevieve“ oder „Double Happiness“, die mit marginal veränderten Arrangements genauso gut aus dem Jahr 1986 stammen könnten. Dabei kopiert sich Lloyd Cole keinesfalls selbst, sondern folgt einfach unbeirrt seinem Weg, der ihn wie seit Anbeginn sicher an den Volten musikalischer Kurzlebigkeit vorbei durch sicheres Fahrwasser geleitet. Die Stationen die er dabei macht, werden auch in Zukunft das sein, was sie immer waren. Wirklich wertvoll.

Richard Ashcroft · RPA And The United Nations Of Sound




Der Verve-Frontmann in zweifelhafter Gesellschaft.

Wäre man schelmisch veranlagt, man könnte sich allerhand ulkige Assoziationen zum neuen Alter Ego Richard Ashcrofts ausdenken. Man könnte behaupten, dass bei den Vereinten Nationen größtenteils Politiker beschäftigt sind, die die Kreativität auch nicht unbedingt gepachtet haben. Oder anmerken, dass Sound alles Mögliche sein kann, aber nicht zwangsläufig Musik sein muss. Auch, dass Ashcroft sich auf dem Cover RPA nennt, also einen jener abgekürzten Zweitvornamen (Paul) verwendet, macht die ganze Sache nicht besser, denn sowas denken sich höchstens Sparkassenkaufleute aus, denen der Doktortitel fehlt.

Warum Richard Ashcroft mit aller Macht so tut, als hätte er eine neue Band, ist kaum zu ergründen. Es wäre sogar unerheblich, könnte man sich einfach über ein weiteres, tolles Album von ihm freuen. Nachdem man „United Nations Of Sound“ zweimal gehört hat, starrt man aber leider noch immer einigermaßen ergebnislos auf die Plattenhülle und fragt sich, was der Quatsch nun eigentlich soll. Das lange vorab veröffentlichte „Are You Ready“ ging mit einem merkwürdigen Video einher, in dem es ums Boxen, Beten und Bereitsein für was auch immer ging. Schon da drängelte sich der Sound(!) zu Ungunsten der Melodie in den Vordergrund und das setzt sich in den weiteren Songs des Albums nun verhängnisvoll fort. „Born Again“ kann man wohl nur wirklich klasse finden, wenn Ashcroft leibhaftig vor einem auf der Bühne steht – visuell ungestützt denkt man eher an den letzten Urlaub und die Animateure auf Teneriffa.

Natürlich hat der Mann das Schreiben von wunderbaren Melodien keinesfalls verlernt, aber seine neue Combo spuckt ihm gemeinsam mit dem Hip-Hop Produzenten No-ID ganz gewaltig in die Suppe. Das fällt besonders bei „This Thing Called Life“, „She Brings Me The Music“ und „Let My Soul Rest“ auf, die allesamt toll gemeint, aber in der Ausführung mit – nun ja – Sound zugekleistert wurden. Den Bombast hat man Richard Ashcroft früher immer gern und leicht verziehen, denn das hypnotische Piano bei „Cry Til The Morning“ oder der Streichereinsatz von „A Song For The Lovers“ waren derart makellos, dass der eine oder andere Ton zuviel vollkommen nebensächlich wurde. Das ist auf „United Nations“ leider anders.

Irgendwie kann man sich beim ersten Album nach den nunmehr zum zweiten Mal verpufften The Verve den Gedanken nicht verkneifen, dass sich Richard Ashcroft gerade mit einer mittelschweren Sinnkrise herumprügelt. Keine Ahnung, was dem gerade fehlt, aber vielleicht wäre eine Auszeit auf den Bahamas besser gewesen, als diese Platte. Bei Ausnahmekünstlern lohnt es sich allerdings, auch in miesen Zeiten dranzubleiben, abzuwarten, Tee zu trinken. Apropos Tee: Gute Besserung.

Tired Pony · The Place We Ran From


Americana für Anfänger.

Es gibt Ankündigungen, vor denen hat man als von Musik begeisterter Mensch glattweg Angst. Die Kollaboration bei Tired Pony versprach zumindest im Vorfeld nicht unbedingt Gutes: Gary Lightbody, seines Zeichens Sänger der von Krankenhausserien gern zitierten Snow Patrol, wollte gemeinsam mit einigen prominenten Vertretern der Zunft ein »von seiner Liebe zu Wilco« inspiriertes Album in die Läden bringen. Da beschleicht einen schon ein irgendwie ungutes Gefühl, auch wenn der Cover-Aufkleber die Teilnahme durchaus honoriger Persönlichkeiten verkündet: Peter Buck von REM, Belle & Sebastian-Drummer Richard Colburn, Tom Smith von den Mädchenflüsterern The Editors, Produzent Jacknife Lee und einige mehr. Aber wenn dann der Opener des Albums auch noch „Northwestern Skies“ heißt, wird die Befürchtung, dass sich die Protagonisten möglicherweise schwer verheben könnten, doch größer als die Vorfreude. Die Klischee-Warnlampe blinkt und man fragt sich unweigerlich, wie dieser Betriebsausflug ins Alternative-Country-Land denn wohl aussehen mag. Wie Coldplay mit Sheriffstern?

Dann aber doch Entwarnung und sogar eine kleine Überraschung: die 10 Songs auf „The Place We Ran From“ sind erwartungsgemäß versiert hervorgebracht, klingen aber dabei erstaunlich lässig. Natürlich dockt die Stimme von Lightbody an die gleichen, gewohnten Synapsen an und es fällt natürlich auch nicht leicht, beim Hören der ersten Zeilen des Openers zu vergessen, dass der Frontmann sein Zuhause im Formatradio hat. Insofern ist „The Place We Ran From“ anfangs anstrengend, wenngleich die Musik selbst durchaus fließend und souverän daherkommt. „Get on the Road“ besitzt eine hübsche Coda mit Stoner-Rock-Anleihen, „Point Me At Lost Islands“ gefällt mit Gitarren, Mandolinen und Fiedel in Saloon-Atmosphäre und „That Silver Necklace“ mit einem verschleppten Schlagzeug. Spätestens dann hat man auch Grey’s Anatomy fast vergessen.

Klar: „Held In Your Arm Of Your Words“ könnte auch Gary Lightbodys üblicher Kostenstelle entstammen, „Dead American Writers“ fällt nach wenigen Sekunden als charttauglich auf und das von Iain Archer gesungene „I Am A Landslide“ klingt etwas bemüht. Aber durchaus schön und weniger nach Wilco, als nach Mike Oldfield. Kann man ja auch mal machen. Insgesamt spürt man bei Tired Pony durchaus die Inspiration, auch wenn sie sich nicht in jedem Song offenbart und es werden in Zukunft möglicherweise ganze Jahre vergehen, in denen man „The Place We Ran From“ nicht auflegen wird. Aber wer weiß – vielleicht verliebt sich der eine oder andere Mensch zufälligerweise zu den Klängen von „The Good Book“ oder „The Deepest Ocean There Is“ und behält Tired Pony in steter, ja ewiger Erinnerung. Mehr kann man von Musik sowieso kaum erwarten. Solide Arbeit. Mission accomplished.

The Verve · Fourth

Gwyneth findet's auch gut.

(Tuuuuut. Tuuuuut.)

RA: Ashcroft?

CM: Chris Martin hier. Hallo Richard!

RA: Tag! Oder isses bei euch Nacht? Ich bin gerade im Urlaub. Vom Tourstress erholen. Verdammte Comeback-Tour.

CM: Ich wollte nur Glückwunsch zum neuen Album sagen!

RA: Ach ja. Ist ja heute erschienen. Hatte ich ganz vergessen. Danke, Mann. (Gähnt) Sorry, hab gerade meine Einschlafpillen genommen und bin müde. Die Kinder sind auch endlich still. Gefällt dir die Platte denn?

CM: Schon toll. Wirklich. Jetzt haben wir doch tatsächlich beide gleichzeitig die vierte Scheibe auf dem Markt.

RA: Ja, lustig was?

CM: Geht echt ganz schön laut und krachig los bei euch. Da dachte ich erst... na ja. Aber auf RATHER BE bin ich echt neidisch. Mit drei läppischen Akkorden einen so schönen Song zu basteln. Klingt sehr nach dir. Also solo mein ich.

RA: Ist ja auch von mir. (Gähnt wieder) Entschuldigung.

CM: Na und JUDAS könnte auch von uns kommen. Finde ich.

RA: Wenn du so singen würdest, wie ich.

CM: Haha! Tja... (kurze Stille) I SEE HOUSES ist auch echt klasse. So einfach und doch so wunderbar harmonisch. Ich hab auch ein wenig geweint dabei. (Schnieft kurz) Ihr habt auch alles so toll laut aufgenommen! Das ist der Breitwand-Sound, den ich auch immer haben will. Nur bei euch klappt das irgendwie besser. Bei Coldplay fieselt das immer so auseinander.

RA: Musst du einfach nur die Regler aufdrehen. Dann haut das auch hin.

CM: Ist aber nicht das Gleiche! Nee! Ich weiß auch nicht, was bei uns da immer schief... Übrigens geht euer LOVE IS NOISE bestimmt in die Charts, das wette ich! Ist ja auch eins von den kurzen Stücken. Mann, habt ihr da lange Tracks auf dem Album. Ich bin da meistens ein wenig ängstlich, dass den Leuten nach 3 Minuten langweilig wird.

RA: Kommt auf die Lieder an.

CM: Genau! Genau das sag ich ja auch immer. Aber die hören nicht auf mich. Du haust bei The Verve wohl einfach auf den Tisch was? Haha!

RA: Meistens. Einer muss ja der Boss sein.

CM: Stimmt. Ach vielleicht hätten wir auf Brian Eno doch verzichten sollen. Der hatte bei den Aufnahmen die ganze Zeit ein U2 T-Shirt an und faselte immer was von Stadion-Rock, großer Geste und so. Hat andauernd flüsternd mit Bono telefoniert, so komisch gelacht und immer aufgelegt, wenn ich dazu kam. Ich war schon total verunsichert. Produzenten... Ihr habt das ja alles selber gemacht.

RA: Klar. Ich brauch da auch keinen.

CM: Logisch, logisch. Ich mein nur... ach... naja. VALIUM SKIES finde ich auch hervorragend! Total! Ehrlich, ich sag das nicht bloß so! Und nach APPALACHIAN SPRINGS war ich für eine Stunde nicht mehr ansprechbar. Also eigentlich... um ehrlich zu sein... wollte ich ja genau die Platte machen, die ihr jetzt gemacht habt.

RA: Wenn du so singen würdest, wie ich.

CM: Richtig. Haha! Das hab ich jetzt verstanden! Du bist mir vielleicht einer... Na ist ja auch egal jetzt. Ich wollte dir nur sagen, dass ich FOURTH wirklich toll finde. Ich fand euch ja schon immer super.

RA: Das ist sehr nett von dir.

CM: Nicht der Rede wert. Echt. Leg dich mal wieder hin.

RA: Ja, mach ich. Gwyn geht's gut?

CM: Ja, alles bestens. Danke. Danke der Nachfrage. Ich soll auch schön grüßen. Ganz herzlich. Hat sie extra betont.

RA: Fein. Dann machs mal gut. (legt auf)

CM: Du auch! Tschüss! Tschüss Richard!

Justin Currie · What Is Love For

Schmerz mit Schleife.

Selbst die heiterste Witzpille wird von Justin Curries erstem Solowerk kaum etwas anderes erwartet haben, als eine Ansammlung überbordenden Herzschmerzes. Del Amitri haben es einem schließlich früher auch nie leicht gemacht. Und obwohl es dem vormaligen Frontmann der herbstlichsten aller Herbst-Bands während seiner bisherigen Schaffensperiode wohl nicht für eine Minute daran lag, landläufigen Erwartungen zu entsprechen, liegt mit What is love for nun genau das vor, was der Titel des Albums verspricht. Gelegenheits-Melancholiker, Quartals-Zyniker und vermutlich eine ganze Menge Mädchen werden aufatmen. Denn alle, die befürchtet haben, dass sich Currie musikalisch vom Del Amitri Fundament entfernt und plötzlich den Experimentalisten oder gar den Rocker heraushängen lässt, dürfen beruhigt seufzen und sich zwischen welkenden Schnittblumen ein weiteres Mal in Musik gewordenem Liebeskummer winden. Der einen allerdings so wunderschön und tröstlich umfängt, wie man es von den Schotten über Jahre hinweg gewohnt war.

What is love for ist eine Soloplatte und gleichzeitig auch wieder nicht. Nachdem Del Amitri 2002 von ihrer Plattenfirma schnöde fallen gelassen wurden, wird nun dem aufmerksamen Credits-Leser nicht entgehen, dass Iain Harvie einen Teil der Stücke arrangiert hat. Die Mitarbeit des besten Bandkumpels aus alten Zeiten betrachtend, ist es kaum verwunderlich, dass es sich bei diesen Songs um das gefühlige Sediment aller Del Amitri Alben handelt. Überdrehte Happy-Songs sucht man vergeblich, stimmungshebende E-Gitarren sind allzu spärlich gesät. Justin Currie, der immer noch singt wie der Prinz der Beladenen und der Gott aller aus Gram gefüllten Gläser, konzentriert sich vorrangig auf seine Stimme neben Arrangements mit Harfen, Mandolinen, Piano und Streichern. Das Schlagzeug setzt erst gegen Ende des zweiten Stückes verhalten ein.

Wo man auch hinhört, präsentieren sich auf What is love for bittere Einsichten. Das Titelstück endet nach der Allgemeinbetrachtung aller Fallstricke der Liebe als persönliches, disparates Gefühl: What do I do with love I can’t use for her anymore? Where do I put this beautiful suit another man wore? Zwischen den Zeilen von Not so sentimental now ist das Herz schon längst gebrochen und Currie fegt, wissend dass geschlagene Wunden vernarben, in aller Ruhe ein paar Scherben zusammen. Something in that mess und besonders If I ever loved you erstrahlen im Abglanz einer nicht für die Ewigkeit bestimmten Beziehung. Only Love tröstet mit Mandolinen und Streichern über die Erkenntnis hinweg, dass der bevorstehende Tod gegenüber Liebeskummer doch nur ein Waldspaziergang ist.

Ohnehin weiß Justin Currie nur zu gut, dass bestimmte Worte in bestimmten Situationen mehr grausames Potential in sich tragen, als eine Horde Erstklässler. Und wäre die brutale Wahrheit dieser Platte nicht in so viel heilendem Balsam instrumentiert, hätte man vermutlich mit einem entsprechenden Hinweis auf dem Cover davor warnen müssen, dass suizidal veranlagte Menschen die Finger von What is love for lassen sollten. Erst am Schluss lenkt Currie vom höchstpersönlich empfundenen Schmerz ab und betrachtet das Universum der modernen Welt in No surrender. Auf durchaus resignative Weise versteht sich und Vergleiche mit den Anfängen der Del’s bei Nothing ever happens kommen nicht von ungefähr. Nach dem Verhallen von What is love for bleibt dennoch das Wissen darum, dass es angesichts der nächsten seelischen Notlage wenigstens einen Menschen geben wird, der verstehend nickt und wortlos das Gästebett bezieht. Eine Harmonie gewordene Erkenntnis, dass das Herz zwar zerreißen, aber möglicherweise durchaus gesunden kann. Regenerationsfähigkeit in Noten. Musik mit Heilwirkung. Gibt's demnächst vielleicht auf Rezept.

REM · Accelerate


Leider gut.

Mist, verdammter. Jahrelang war ich davon überzeugt, dass ich REM nach vielen grandios gescheiterten Annäherungsversuchen einfach nicht mögen muss. Richtig froh war ich, den Hype mancher Pop-Gazetten nicht mitmachen zu müssen. Und bestätigt wurde ich auch immer wieder, wenn sich diese Truppe ganz gefährlich an der Grenze zum Mainstream entlanggemogelt hat. Wenn mir die Stimme von Michael Stipe einfach furchtbar auf die Nerven ging. Dieses Gezappel dazu. Die ganze Attitüde, das verkniffene auf-Fotos-wird-nicht-gelacht, diese „Amerika ist aber ganz gehörig am Arsch“ Nummer. Shiny Happy People im Formatradio. Und dann auch noch das verunglückte „Monster“ und zu guter Letzt der Panzerknacker-Streifen im Gesicht. Alles ziemlich doof. Meine Welt war echt in Ordnung ohne REM.

Und jetzt das. Kommen die daher und legen das beste Rock-Album des ersten Quartals 2008 hin. Einfach so. Da hab ich den Salat. Denn so sehr ich mich auch drehen und qualvoll winden mag – an den 35 Minuten auf „Accelerate“ ist tatsächlich kein Makel zu finden. „Living well is the best revenge“ tritt nach Betätigung des Abspielknopfs die Tür auf und bellt einem frech ins Gesicht. Viel breitbeiniger, als man das von einer Truppe erwarten würde, die einen Mann mit Norbert-Blüm-Brille in ihren Reihen beherbergt. Von einer komplexen, aber blöderweise dennoch nicht verkünstelten Songfigur getragen, schunkelt man sich gleich danach durch „Man-sized Wreath“. Und ist anschließend wirklich angenehm überrascht, denn wenn ein Großteil der REM-Auskopplungen im Backkatalog so energetisch und ungebürstet dahergekommen wäre, wie „Supernatural Superserious“, hätten sich die Jungs aus Georgia viel Ungemach erspart. Klar – auch hier verspürt man ein wenig Eingängigkeit, für die man REM so oft geächtet hat (ich auf jeden Fall – Schande über sie!). Die verschwindet aber im Flug, wenn man sich das Ding einfach richtig laut auf einem Tonträger und nicht als UKW-Frikadelle im Shakira-Rihanna-Sandwich zu Gemüte führt. Wunderschön, wie fies der Refrain zu „Hollow Man“ eingeleitet wird und sich der Bass schlangenförmig in die Höhe windet. Der bedrohliche Höhepunkt bei „Houston“ mit einem scheppernden Schlagzeug, mit Gitarren wie Knarren und einer angehübschten Mandolinenspur irgendwo aus dem Off. Das Titelstück lässt wenig Atemluft, bei „Until the day is done“ kann man zur Akustischen mal durchschnaufen. „Horse to water“ hätte man sich unveröffentlicht als Live-Beigabe gewünscht, weil das Publikum beim Mitklatschen herrlich verzweifelt nach der Eins sucht. Apropos Zahlen: Ordentlich auf die Zwölf gibt’s dann nochmal zum Schluss bei „I’m gonna DJ“ mit quietschfidelen Uhuu-Chören.

Es ist übrigens nicht der Kürze der Songs zu verdanken, dass man auf „Accelerate“ ständig bei der Stange bleibt. Vielmehr haben REM auf jeglichen überflüssigen Schnickschnack verzichtet und folgen ihren einfachen, wie exzellenten Songstrukturen. Die Stücke stehen schlank und druckvoll da, nichts wird begradigt, kein Fade-out lässt nach letzten Akkorden die fast in Punk-Manier enden, noch Fragen offen. Da liegt die Vermutung nah, dass nach dem ersten Take im Studio die Aufnahme im Kasten war. Haken dran, weiter bitte, wir haben schließlich nicht den ganzen Tag Zeit. Mehr nach offenem Garagentor klangen REM wohl nie. Kaum eine Gitarre ohne Kabel. Please file under „Rock-Music“.

Okay. Ja, mein Gott. REM haben eine verdammt gute Platte gemacht. Leider. Wehre ich mich in Zukunft wenigstens gegen „Automatic for the people“, ich Banause.

Panic At The Disco · Pretty Odd

Die machen nur Spaß.

Wenn man sich mindestens 30mal hintereinander Sgt. Pepper anhört, nebenbei den Zauberer von Oz anschaut und sich dabei noch ordentlich einen auf die Lampe gießt, kommt vermutlich genau die Art von Musik dabei heraus, die Panic At The Disco gerade machen. Ohne Ausrufezeichen im Namen kommen die Jungs aus Las Vegas nicht mehr ganz so hemdsärmelig und gitarrenlastig daher, wie auf dem Erstling „A fever you can’t sweat out“. Das wird bei der schnell angewachsenen Fangemeinde nicht unbedingt für frenetischen Beifall sorgen, hat aber gehöriges Potential, neue Liebhaber zu generieren. Zumindest solche, die sich zu amüsieren verstehen, denn das kann man auf „Pretty Odd“ geradezu königlich.

Die Jugend besitzt das Privileg, sich alles erlauben zu können. Panic at the disco nehmen das wörtlich und wildern mit untrüglichem Gespür für Harmonien in den Stilen und zwischen einer Menge Stühlen. „Don’t worry, we’re still the same band“ heißt es zwar gleich zur Eröffnung, aber spätestens beim Schunkler „Folkin around“ und der anschließenden Märchenonkel-Serenade „She had the World“ ist man gewiss, dass dieser Band nichts ferner liegt, als Durchgängigkeit. An der einen oder anderen Stelle mag das allzu sehr verkünstelt klingen, aber Spaß macht die ganze Geschichte auf jeden Fall und dazu kann Pretty Odd mit einigen wunderbaren Melodien aufwarten. In „Northern Downpour“ etwa, das auch von Travis kommen könnte, wenn Travis eine lustige Band wären. Oder in „When the day met the night“, das mit Pauken und Trompeten den Beach Boys aus dem Kreuz geleiert wurde und sich nicht zu schade ist, beschwingte Belanglosigkeiten zu zitieren. „In the middle of summer / All was golden in the sky / all was golden when the day met the night.“ Panic at the Disco haben zweifelsohne einen ganz gehörigen Dachschaden, aber ein bisschen Wahnsinn hat noch keiner Platte geschadet. Auch wenn sich die Sonne momentan noch selten blicken lässt, wird Pretty Odd wohl eines der sommerlichsten Alben dieses Jahres sein. Bitte vermeiden, wenn man es gerade vorzieht, richtig mies gelaunt zu sein. Alle anderen mitsingen.

Paul Weller · 22 Dreams



Feines, aber manchmal schweres Backwerk.

Ein Konzeptalbum! Musik für Musiker! Würde man nicht besser wissen (und in den letzten Interviews, die Paul Weller mal gern, mal eher mürrisch gegeben hat herausgehört haben), dass es durchaus schwierig war, 22 DREAMS abzumischen und das Tracklisting hinzubiegen, könnte man hier durchaus davon ausgehen, es mit verkünsteltem Konzeptkalkül und Muckertum zu tun zu haben. Aber natürlich gelten für das nunmehr neunte Studio-Soloalbum des Modfathers andere Gesetze. Wie schon seit langem und jetzt erst recht – denn unlängst feierte Weller seinen 50. Geburtstag und ruht nach eigenen Angaben mittlerweile größtenteils in sich selbst. Was auf die Wellersche Rastlosigkeit indes keinen Einfluss hat; lediglich vielleicht auf die Urteilsbetrachtung hinsichtlich der versammelten Musikpresse. »Ich habe mir das Recht erarbeitet, keine Kompromisse mehr einzugehen. Ich kann machen, was ich will.« wurde Paul Weller vor wenigen Wochen zitiert. Wenn man 22 DREAMS zum ersten Mal hört, bekommt man tatsächlich den Eindruck, dass der Mann seinen Worten auch Taten folgen lässt.

Für jemanden, der es während seiner gesamten Karriere gewohnt war mit Stilen zu brechen, Kurven und Kehrtwenden einzulegen oder gar Haken zu schlagen, mag das vorliegende Doppelalbum die normalste Sache der Welt sein. Für aufmerksame Musikliebhaber – und Weller-Fans erst recht – ist 22 DREAMS ein ganzes Stück Arbeit. Vor allem, weil diese 21 Songs (!), zumindest was das Studiowerk von Paul Weller anbelangt, direkt auf das absolut grandiose und stellenweise ziemlich breitbeinige AS IS NOW von 2005 folgen. Hatte man damals und in den folgenden Jahren vor Publikum noch gedacht, Weller hätte es sich komplett in der alterslosen Rock’n’Roll-Ledergarnitur, der Oasis-Kumpanei und inmitten seiner klassischen Vier-Personen-Band kuschelig gemacht, wird 22 DREAMS nun recht verspielt unterbrochen von allerlei instrumentalem Spleen und musikalischen Vignetten. Ob man das braucht oder nicht, mag jeder für sich selbst befinden. Die tatsächlichen Songs auf 22 DREAMS hingegen, sind zum größten Teil schlichtweg wunderbar.

Hat man den etwas überdrehten Einstieg erstmal geschafft, ist man geradezu erstarrt von der klaren, schlichten Schönheit, die ALL I WANNA DO IS TO BE WITH YOU oder HAVE YOU MADE UP YOUR MIND ausstrahlen. Das harmonieselige EMPTY RING hält vermutlich noch in ein paar Monaten ein paar neue, bislang unentdeckte Melodien bereit, während INVISIBLE so viel Resignation in sich trägt, dass Menschen, die sich gerade in einer vergleichbaren Beziehungssituation befinden, dem Gedanken mal eben ins Wasser zu gehen, eine Menge abgewinnen könnten. Das fantastische COLD MOMENTS zitiert luftig die Sixties und ist allein durch den Sha-la-la-Part zum Mitsingen schon jetzt ein Weller-Klassiker. Und auch wenn Paul Weller die Beatles bevorzugt, ist der Beginn von PUSH IT ALONG ebenso kunstfertig wie herrlich bei der ehemaligen Konkurrenz von Under my thumb geklaut. Aber trotzdem toll, selbstredend. Das Oasis-Derivat ECHOES ROUND THE SUN, mit Wellers Lieblingstrinkkumpanen Noel Gallagher geschrieben, ist so eloquent wie grandios, hingegen doch schnell als Kooperation enttarnt – als lupenreiner, alleiniger Paul Weller Song wäre das dann doch zu eindimensional. Direkt auf diesen ultracoolen London-Chartbreaker einen Tango wie ONE BRIGHT STAR folgen zu lassen, kann man sich wohl tatsächlich bloß erlauben, wenn man wie Weller keine nervenden Plattenbosse im Nacken hat. Nach der Pleite des Hauslabels V2 fand Weller den Weg zurück zu Universal und dort ist man dem Anschein nach so froh über das unverhoffte Glück, wieder ein English Icon in den eigenen Reihen begrüßen zu können, dass man dem verlorenen Sohn so Einiges durchgehen ließ. Das versponnene GOD, die überfrachtete und gänzlich überflüssige Session 111 oder das verkünstelte NIGHT LIGHTS beispielsweise.

Es ist unmöglich, einen Mann wie Paul Weller auf einen Stil oder gar eine oder zwei Platten zu reduzieren, weshalb 22 DREAMS wohl auch nichts für Einsteiger in das Gesamtwerk des Künstlers sein werden. Eingeweihte werden die Einflüsse von Traffic oder den Small Faces zu schätzen wissen, aus denen Weller selbst auch nie einen Hehl gemacht hat. So ist diese Platte ein Doppelalbum im klassischen Sinn. Als Stand-alone mit mindestens 10 außergewöhnlichen Songs ein im Vergleich zu AS IS NOW zwar ruhigeres, aber durchaus musikalisch wertvolleres Meisterwerk. Als Doppelalbum muss sich 22 DREAMS mit ein paar naturgemäßen, aber daher verzeihbaren Lückenbüßern herumprügeln. Paul Weller hat sich selbst einen musikalischen Geburtstagskuchen gebacken. Der muss nicht jedem schmecken. Aber das eine oder andere Stück ist immer noch weitaus leckerer als vom besten Bäcker der Stadt.